7

Kade wartete die paar Stunden Tageslicht in der Blockhütte der Toms ab.

Sobald es für ihn mit seiner UV-Licht-empfindlichen Stammeshaut sicher war, nach draußen zu gehen, machte er sich ein weiteres Mal zu Fuß auf den Weg, dieses Mal zum zehntausend Morgen großen Anwesen seiner Familie nördlich von Fairbanks.

Er fragte sich, welcher Empfang ihn im Dunklen Hafen seines Vaters wohl erwartete - ihn, den verlorenen Sohn, das unverfrorene schwarze Schaf der Familie, das vor einem Jahr ohne Entschuldigung oder Erklärung verschwunden war und nie zurückgeschaut hatte. Er hatte durchaus Schuldgefühle deswegen, aber er glaubte nicht, dass ihm das jemand abkaufen würde, wenn er es zugab.

Er fragte sich, ob Seth dort sein würde, wenn er ankam, und wenn ja, was sein Bruder zu den brutalen Morden sagen würde. Und dass der Orden ausgerechnet Kade aus Boston zurück nach Hause beordert hatte, um die Morde zu untersuchen.

Aber vor allem fragte sich Kade, was Alexandra Maguire zu verbergen hatte.

Er besaß genug persönliche Erfahrung mit Geheimniskrämerei, um zu wissen, dass die attraktive junge Buschpilotin mehr über die Morde wusste, als sie zugab. Sie war nicht ganz ehrlich gewesen - weder mit den Anwohnern noch der Polizei noch vorhin mit ihm. Womöglich nicht einmal sich selbst gegenüber.

Er hätte ihr stärker zusetzen können, als er sie bei der Ansiedlung der Toms getroffen hatte, um die Wahrheit aus ihr herauszuholen, aber Alex schien ihm nicht der Typ, der sich gegen seinen Willen zu etwas zwingen ließ. Kade würde ihr Vertrauen gewinnen müssen, um an die Informationen zu kommen, die er von ihr haben wollte.

Vielleicht musste er sie dazu sogar verführen - ein Gedanke, der ihn definitiv zu sehr interessierte. Klar. Ein Knochenjob, sich an Alexandra Maguire ranzumachen. Wenn nur alle seine Missionen so schweißtreibend wären.

Mit den Gedanken, wie er sie das nächste Mal anpacken würde, wenn er sie sah, vergingen die Stunden und Meilen wie im Flug. Praktisch im Handumdrehen hatte er das riesige bewaldete Gebiet voll unberührter Wildnis erreicht, das sich seit Jahrhunderten im Besitz seiner Familie befand. Vom vertrauten Duft der Wälder und der Erde, die unter ihrer Schneedecke schlief, wurde ihm eng um die Brust. So lange Zeit war dieses weite Land sein Zuhause, sein Königreich gewesen.

Wie oft waren er und Seth wild und ausgelassen durch diesen Wald gerannt, Kampfgefährten, die jungen Prinzen dieses Reiches? Zu oft, um sich daran zu erinnern.

Aber Kade erinnerte sich an die Nacht, in der die Idylle ihrer gemeinsamen Kindheit zu Ende gegangen war. Er spürte, wie dieser Augenblick immer noch auf ihm lastete, als sich beim Anblick der weitläufigen Ansammlung von handbehauenen Blockhäusern, die den Dunklen Hafen seines Vaters bildeten, der eisige Griff des Grauens schwer um seinen Nacken schloss.

Anders als die meisten zivilen Vampirgemeinschaften verfügte dieser Dunkle Hafen weder über einen Einfassungszaun noch über Überwachungskameras.

Auch waren keine Wachen postiert. Aber so weit draußen in der Wildnis war das auch nicht nötig. Das unwirtliche, abgelegene, weite Land selbst bewachte die vielen Stammesvampire und die Menschenfrauen, die mit ihnen lebten.

Wenn sich ungebetene Besucher auf das Gelände verirrten, ohne sich von den vierbeinigen Raubtieren abschrecken zu lassen, kümmerten sich Kades Vater und die etwa zwanzig anderen Stammesvampire des Dunklen Hafens mit Freuden um sie.

Kade stapfte den schneebedeckten Pfad entlang, der zum großen Haupthaus führte. Er klopfte an den Türpfosten, es war ihm unangenehm, unangemeldet hereinzuplatzen.

Der jüngere Bruder seines Vaters kam an die Tür und öffnete sie. „Was stehst du da draußen im Schnee rum, Seth ...?“

„Onkel Maksim“, sagte Kade und senkte grüßend den Kopf, und das Gesicht des anderen Mannes leuchtete überrascht auf, als er ihn erkannte. „Wie geht's dir, Max?“

Der Stammesvampir war fast dreihundert Jahre alt, aber wie alle Angehörigen seiner Spezies wirkte er mit seinem faltenlosen Gesicht und dem dichten braunen Haar wie ein Mann in den besten Jahren. „Gut, danke“, antwortete er.

„Was für eine schöne Überraschung, Kade. Dein Vater wird sich so freuen, dass du wieder zu Hause bist.“

Bei dem Gedanken musste Kade sich ein Kichern verbeißen, aber er wusste, dass sein Onkel es nicht sarkastisch meinte. „Ist er da?“

Maksim nickte. „In seinem Arbeitszimmer. Mein Gott, bin ich vielleicht froh, dich wiederzusehen und zu wissen, dass du in Ordnung bist. Du warst so lange weg und hast nichts von dir hören lassen. Viele von uns hatten schon das Schlimmste befürchtet.“

„Ja“, sagte Kade bewusst ironisch. „Passiert mir öfter. Sagst du meinem Vater, dass ich hier bin?“

Sein Onkel schlug ihm leicht auf die Schulter. „Und nicht nur das. Komm mit.

Ich bring dich zu ihm.“

Kade folgte dem riesenhaften Mann durch das ausgedehnte Haus zu dem privaten Arbeitszimmer mit Blick auf den westlichen Teil des Anwesens. Maksim klopfte an die Tür, dann drückte er die Klinke hinunter und öffnete die Tür.

„Kir. Schau mal, wer nach Hause gekommen ist, Bruder.“

Kades Vater sah von einem offenen Programm auf seinem Bildschirm auf und schwenkte seinen riesigen Ledersessel herum, um sie anzusehen. Kade sah Überraschung und Erleichterung über sein strenges Gesicht flackern, dann verdüsterte es sich zu Verwirrung und offener Enttäuschung, als Kir erkannte, dass es der verlorene Sohn war, der da auf der Schwelle wartete, nicht sein Liebling. Seine Miene verfinsterte sich noch mehr. „Kade.“

“Vater“, erwiderte er und wusste, dass es für ihn keine liebevolle Umarmung, kein herzliches Willkommen geben würde, als sein Vater von seinem Sessel aufstand, um seinen langen Schreibtisch herumging und dort stehen blieb.

Er warf seinem Bruder, der hinter Kade an der Tür stand, einen knappen Seitenblick zu. „Lass uns allein, Maksim.“

Kade spürte eher, als er es sah, wie sein Onkel stumm und gehorsam aus dem Raum verschwand. Stattdessen beobachtete er seinen Vater, sah die offene Missbilligung in dem finsteren Blick, der sich vom anderen Ende des Arbeitszimmers in ihn bohrte. Kade stellte den Ledersack mit seinen Sachen und Waffen ab und wappnete sich innerlich.

„Als wir vor ein paar Tagen telefoniert haben, hast du nicht erwähnt, dass du vorhast, nach Hause zu kommen.“ Als Kade keine Anstalten machte, sich zu entschuldigen, atmete sein Vater scharf aus. „Aber wen überrascht das. Du hast dir ja auch nicht die Mühe gemacht, uns etwas zu sagen, als du uns vor einem Jahr verlassen hast. Du bist einfach gegangen, ohne auch nur einen Gedanken an deine Verantwortung oder an deine Familie zu verschwenden.“

„Es war Zeit für mich zu gehen“, antwortete Kade nach einem langen Schweigen. „Da gab es Dinge, die ich tun musste.“

Sein Vater schnaubte feindselig. „Ich hoffe, das war es wert. Du hast deiner Mutter das Herz gebrochen, das ist dir doch klar? Bis du neulich aus heiterem Himmel angerufen hast, war sie sicher, dass du bei diesen gesetzlosen Killern in Boston umgekommen bist. Und obwohl Seth der Letzte wäre, der schlecht über dich redet, kann ich dir sagen, dass du auch ihm das Herz gebrochen hast. Dein Bruder hat sich verändert, seit du fortgegangen bist.“

Und natürlich war das wie immer ganz allein Kades Schuld. Er schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, sich oder den Orden zu verteidigen. Lucan und die anderen Krieger brauchten die Unterstützung oder Zustimmung seines Vaters nicht. Genauso wenig wie er selbst.

Er hatte so verdammt lange ohne sie auskommen müssen, dass er schon lange aufgegeben hatte, sich diesem Mann zu beweisen.

„Seth ist also immer noch geschäftlich für dich unterwegs?“

Sein Vater machte die Augen schmal. „Er dürfte bald zurück sein. Ich nehme an, er wird Nahrung zu sich nehmen, solange er fort ist. Das dürfte der Grund für seine Verspätung sein.“

„Was ist mit Patrice?“

„Sie sind noch nicht verbunden“, antwortete sein Vater knapp.

Kade nahm diese Neuigkeit mit einem Grunzen zur Kenntnis und wünschte sich, überraschter zu sein. Seit einem halben Jahrzehnt war es beschlossene Sache, dass Seth und Patrice, eine der Stammesgefährtinnen, die seit ihrer Kindheit im Dunklen Hafen der Familie lebte, irgendwann eine Blutsverbindung miteinander eingehen würden. Damals hatte Patrice ihn sich aus allen anderen Männern der Region auserwählt, und zur großen Freude seiner Eltern hatte Seth zugestimmt, die junge Frau zu seiner Stammesgefährtin zu machen. Das Problem war nur, dass er ständig neue Entschuldigungen fand, um sie weiter hinzuhalten.

Ohne eine Stammesgefährtin, die ihn mit ihrem Blut nährte, war er gezwungen, sich seine Nahrung bei der normalsterblichen Menschenbevölkerung zu suchen. Die meisten Stammesvampire gingen die unlösbare, ewige Verbindung zu einer Stammesgefährtin, die sie aus der Knechtschaft ihres Blutdurstes erlöste, mit Freuden ein, denn sie spendete ihnen eine lebenslange Quelle von Liebe, Kraft und Leidenschaft.

Aber es gab auch Vampire, die es vorzogen, ledig zu bleiben, und es genossen, nach Lust und Laune immer neue menschliche Beute zu jagen und zu erobern.

Kade selbst hatte es gar nicht eilig, sich an eine eigene Stammesgefährtin zu ketten, ein weiterer ewiger Streitpunkt mit seinem Vater und seiner Mutter, die schon über ein Jahrhundert in einer glücklichen Blutsverbindung lebten.

Also hatten sie all ihre Hoffnungen auf Seth gesetzt. Er war der Fleißige, der Intellektuelle gewesen, von dem man annahm, dass er eines Tages die Leitung des Dunklen Hafens seiner Familie übernehmen oder seinen eigenen gründen würde.

Kade war immer das genaue Gegenteil seines Bruders gewesen. Es war vermutlich diese waghalsige Seite, die ihn in den Augen seines Vaters verdammt hatte, während Seth, der sich immer große Mühe gegeben hatte, nach außen hin beherrscht zu wirken, scheinbar endlose Freiheiten genossen hatte.

„Nun“, sagte sein Vater nach längerem Schweigen. „Da du offenbar zur Vernunft gekommen und nach Hause zurückgekehrt bist, nehme ich an, dass du wieder versuchen willst, Teil der Familie zu sein. Da du offenbar nur hast, was du am Leibe trägst, werde ich dir eine angemessene Summe auf dein altes Konto überweisen lassen.“

„Ich bin nicht wegen einem Almosen hergekommen“, stieß Kade hervor, wütend darüber, wie sein Vater so von ihm denken konnte. „Und was das Bleiben angeht, ich habe nicht vor, zu

„Wo ist mein Sohn?“ Kades Worte wurden von einem zierlichen Zyklon unterbrochen, der die Tür des Arbeitszimmers aufschlug und hineinwirbelte.

„Du bist es wirklich! Oh, Kade!“

Sie zog Kade in eine wilde Umarmung, ihr Körper bebte vor Ergriffenheit.

Seine Mutter war genauso schön und temperamentvoll wie immer - und der Babybauch unter ihrem weiten winterweißen Pullover, den sie über einer Hose trug, machte sie nur noch schöner. Mit ihrem rabenschwarzen Haar und den silberhellen Augen, die er und Seth von ihr hatten, war Kades Mutter Victoria eine atemberaubende Frau. Wie ihr Gefährte wirkte sie nicht älter als dreißig, ihr Alterungsprozess war durch ihre Blutsverbindung mit Kir zum Stillstand gekommen.

„Oh, mein lieber Schatz. Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht! Gott sei Dank bist du zurück - und schau mal, du kommst gerade rechtzeitig.“ Sie lächelte, strahlte geradezu. „In einem knappen Monat bekommst du zwei kleine Brüder. Wieder eineiige Zwillinge, wie du und Seth.“

Obwohl sie von diesen Aussichten sichtlich entzückt war, hatte Kade plötzlich ein ungutes Gefühl im Magen. Die Gabe, die er und sein Bruder teilten - die Fähigkeit, mit Raubtieren zu kommunizieren und sie durch reine Willenskraft zu lenken -, hatten sie von ihrer Mutter, genauso wie sie auch Victorias glatte goldene Haut, ihr dunkles Haar und ihre exotischen Augen geerbt hatten. Aber im Unterschied zu ihr hatte die Gabe bei Kade und Seth, die auch das heiße Blut ihres Vampirvaters geerbt hatten, eine düstere Seite. Der Gedanke, dass das Muster sich bei einem weiteren Brüderpaar wiederholen könnte, machte ihn ganz elend.

„Gut siehst du aus, Mutter. Es ist schön, dich so glücklich zu sehen.“

„Sogar noch glücklicher, jetzt, wo du da bist. Du wirst sehen, ich habe in deinem Quartier alles so gelassen, wie du es verlassen hast. Es ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht gehofft und gebetet habe, dass ich meine beiden geliebten Söhne wieder gesund und munter hier bei mir habe ...“

Wieder schlang sie die Arme um ihn, und Kade fühlte sich noch schlechter, weil er ihr nun das sagen musste: „Ich ... ich weiß nicht, wie lange ich bleibe.

Ich bin nicht zurückgekommen, um bei euch zu bleiben, Mutter. Ich bin in Ordensangelegenheiten hier.“

Sie zog sich zurück, ihre freudige Miene fiel in sich zusammen. „Du bleibst nicht?“

„Nur bis meine Mission erfüllt ist. Dann muss ich nach Boston zurück. Tut mir leid, wenn du gedacht hast, dass ...“

„Du kannst nicht wieder weggehen“, murmelte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Du gehörst hierher, Kade. Das ist dein Zuhause. Wir sind deine Familie. Dein Leben ist hier ...“

Er schüttelte sanft den Kopf. „Mein Leben ist jetzt beim Orden. Sie brauchen mich dort, ich habe wichtige Aufgaben. Mutter, tut mir leid, dich zu enttäuschen.“

Sie schluchzte hinter vorgehaltener Hand und wich einige Schritte zurück. Die plötzliche Bewegung ließ sie ein wenig schwanken, und Kades Vater war sofort an ihrer Seite und legte ihr fürsorglich den Arm um die Schulter. Er redete leise auf sie ein, und seine sanften, vertrauten Worte schienen sie etwas zu beruhigen. Aber ihre Tränen und ihr Schluchzen verebbten nicht völlig.

Kades Vater begleitete sie vorsichtig zur Tür, und blieb nur kurz stehen, um seinen Kopf zu heben und seinem Sohn einen harten Blick zuzuwerfen. Ihre Blicke trafen sich und kollidierten, keiner von beiden war bereit nachzugeben.

„Du und ich sind noch nicht fertig miteinander, Kade. Du wartest hier, bis ich mich um deine Mutter gekümmert habe.“

Er wartete wie befohlen, aber nur eine Minute lang. In der Zeit, die er fort war, hatte er fast vergessen, wie es gewesen war, hier zu leben. Er konnte nicht mehr unter dem Dach seines Vaters leben, genauso wenig wie im Schatten von Seth. Es brachte ihn fast um, seiner Mutter Kummer zu machen, aber wenn er vergessen hatte, dass er nicht hierher gehörte, dann hatte ihn der Blick, mit dem sein Vater ihn eben beim Hinausgehen angesehen hatte, klar und deutlich wieder daran erinnert.

„Scheiße“, zischte Kade, packte seinen Ledersack und stürmte aus dem Arbeitszimmer.

Er ging nach draußen, weil er dachte, dass er in der kalten Luft einen klaren Kopf bekommen würde. Doch sein Blick fiel unwillkürlich auf die Blockhütte seines Bruders. Er wusste, dass er nicht hineingehen sollte - er hatte kein Recht, in Seths Privatsphäre einzudringen, aber sein Bedürfnis nach Antworten war stärker als seine Schuldgefühle. Kade öffnete die Tür und ging hinein.

Er war nicht sicher, was er eigentlich erwartet hatte. Ein gewisses Chaos, die wilde Unordnung eines psychisch Gestörten? Aber Seths Quartier war wie immer tipptopp, nichts war hier fehl am Platz, alle seine Möbel und Habseligkeiten waren ordentlich und präzise arrangiert. Auf dem Couchtisch lag ein Philosophiebuch, eine Sammlung klassischer Musik-CDs war in dem CD-Wechsler der Stereoanlage. Neben dem Computer auf Seths Schreibtisch lag ein Ordner mit ausgedruckten Tabellen, an denen er offenbar für ihren Vater gearbeitet hatte, ordentlich geschlossen unter einem Briefbeschwerer aus Kristall.

Seth, der perfekte Sohn.

Doch je länger Kade sich hier umsah, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass die Blockhütte wie eine Inszenierung wirkte statt wie wirklich bewohnt.

Es war alles zu  ordentlich. Zu sorgfältig arrangiert, so als wäre es absichtlich so hingelegt worden, falls jemand schnüffeln kam, in der Annahme, dass hier etwas nicht stimmte. Oder auf der Suche nach einem offensichtlichen Anzeichen von Täuschung, genau wie Kade es eben tat.

Aber Kade kannte seinen Bruder besser als alle anderen. Er war ein Teil von Seth, so wie niemand sonst. Als eineiige Zwillinge besaßen sie eine unauflösliche Verbindung. Sie waren von Kindheit an unzertrennlich gewesen, zwei Teile eines Ganzen, und hatten einander ohne Worte verstanden.

Kade hatte geglaubt, dass er und Seth in jeder Hinsicht identisch wären ... bis er zum ersten Mal gesehen hatte, wie sein Bruder einem Wolfsrudel befohlen hatte, einen Grizzly zu jagen und zu reißen.

Damals waren sie noch vierzehnjährige Jungen gewesen, die begierig darauf waren, die Grenzen ihrer Kraft und ihrer übernatürlichen Fähigkeiten auszutesten. Seth gab damit an, dass er sich mit einem Wolfsrudel aus der Gegend angefreundet und es geschafft hatte, mit seiner Willenskraft mehr als ein Tier gleichzeitig zu lenken. Kade hatte das nie getan - er hatte nicht einmal gewusst, dass er das überhaupt konnte, und Seth hatte darauf gebrannt, es ihm vorzuführen.

Mit einem Heulen hatte er das Rudel herbeigerufen, und bevor Kade sichs versah, rannten er und Seth mit den Wölfen und suchten nach Beute. Sie fanden einen Grizzlybären, der in einem Fluss Lachse fing. Seth befahl dem Rudel, den Bären zu reißen. Zu Kades Verblüffung gehorchten sie. Aber noch verblüffender, so unendlich erschreckender war der Anblick von Seth, der an dem Gemetzel teilnahm.

Es war eine blutige Schlacht, die sich lange hinzog ... und Seth hatte sie genossen. Über und über verschmiert mit dem Blut des Tieres, hatte er Kade zugerufen mitzumachen, aber Kade war entsetzt gewesen. Er hatte ins Unterholz gekotzt und sich so elend gefühlt wie noch nie in seinem Leben.

Danach hatte Seth ihn insgeheim wochenlang aufgezogen, ihm keine Ruhe mehr gelassen. Er hatte ihn aufgestachelt und herausgefordert, die Grenzen seiner übernatürlichen Gabe zu testen, um festzustellen, welcher von ihnen beiden der mächtigere Zwilling war. Und Kade war so dumm gewesen nachzugeben. Sein Stolz hatte ihn zu einem Idioten gemacht, und so hatte er den Fehdehandschuh aufgenommen, den Seth ihm hingeworfen hatte.

Er hatte seine Gabe so intensiv trainiert, bis sie für ihn so selbstverständlich war wie das Atmen. Er hatte gelernt, das Gefühl der ungezähmten Wildtiere auf seiner Haut zu lieben, die zwischen seinen Zähnen und Fängen gefangen waren und seine Sinne überfluteten. Er war so geschickt geworden, so süchtig nach der Macht seiner Gabe, dass es bald fast unmöglich war, sie zu kontrollieren.

Seth hatte getobt vor Wut, dass Kades Fälligkeit stärker war als seine. Er war eifersüchtig und unsicher - eine gefährliche Kombination. Plötzlich hatte er Kade nichts mehr zu beweisen, und seine gewalttätigen Neigungen brachen sich auf beunruhigende Weise Bahn.

Irgendwann hatte Seth insgeheim damit angefangen, andere Beute zu jagen.

Er und sein Rudel hatten einen Menschen getötet.

Es war nur wenige Monate bevor Kade vom Orden rekrutiert wurde passiert.

In seinem Abscheu und seiner Wut hatte er vorgehabt, Seth vor ihren Vater und den Rest des Dunklen Hafens zu zerren und seinen unentschuldbaren Verstoß gegen die Stammesgesetze öffentlich zu machen. Aber Seth hatte ihn angefleht. Ihm hoch und heilig geschworen, dass das alles ein schrecklicher Fehler gewesen sei - ein Spiel, das irgendwie außer Kontrolle geraten sei. Er hatte Kade gebeten, ihn nicht zu verraten. Ihm beteuert, dass der Mord nicht geplant gewesen sei und dass so etwas nie wieder vorkommen würde.

Schon damals hatte Kade ihm nicht geglaubt. Er hätte Seths Geheimnis öffentlich machen sollen. Aber Seth war sein geliebter Bruder - seine andere Hälfte. Kade wusste, welche Auswirkungen die Information über Seths Verbrechen auf seine Eltern haben würde, besonders auf seine Mutter. Also hatte er das Geheimnis gewahrt.

Er hatte Seth geschützt und seinen Eltern den Schmerz erspart, aber es hatte ihm keine Ruhe gelassen und ständig an ihm genagt. Und als der Anruf von Nikolai in Boston kam, dass der Orden neue Mitglieder brauchte, hatte Kade sofort zugegriffen.

Die brutalen Morde an der Familie Toms hatten das alles wieder zurückgebracht. Er hoffte inständig, dass sein Bruder nicht dazu fähig war, kaltblütig eine ganze Familie auszulöschen. Aber er befürchtete, dass Seth sein Versprechen von vor einem Jahr schon nicht mehr einhalten konnte.

Diese Angst lag Kade jetzt schwer auf der Seele, als er auf die Tür zuging. Erst auf halbem Weg erkannte er, dass er auf einem dicken Grizzlyfell lief, das den Wohnzimmerboden bedeckte. Und obwohl er wusste, dass es nicht von dem Bären stammen konnte, den Seth und seine Wölfe vor all den Jahren gerissen hatten, machte ihn das erstarrte, aufgerissene Maul des toten Bärenkopfes stutzig. Er ging zurück und kniete sich daneben.

„Lieber Gott. Mach, dass ich mich täusche“, flüsterte er und schob vorsichtig seine Hand in das Maul, vorbei an den scharfen Zähnen, so weit er konnte. Er stieß einen Fluch aus, als seine Finger weiches Tuch und darin etwas Festes streiften. Hinten in der Kehle des Grizzlys war etwas versteckt.

Kade zog ein kleines verschnürtes Säckchen heraus, das mit einem metallischen Klirren in seiner Handfläche landete. Er löste die Kordeln und schüttete den Inhalt aus. Mehrere goldene Ringe glitten in seine Hand, zusammen mit einem geflochtenen Lederarmband, an dem ein Bärenzahn hing - und abgeschnittene menschliche Haarsträhnen von vielen unterschiedlichen Köpfen, einige noch mit getrocknetem Blut verkrustet.

Worum es sich hier handelte, war nur allzu offensichtlich...

Andenken, die Seth gesammelt hatte. Das verborgene Versteck eines Killers, voller Trophäen, die er seinen Opfern abgenommen hatte.

„Du Hundesohn“, stieß Kade rau hervor. „Du verdammter kranker Hundesohn.“

Wut und Kummer prallten in seinem Magen aufeinander. Er wollte nicht glauben, was er sah. Er wollte Entschuldigungen finden, jede mögliche Erklärung war ihm recht, außer der einen, die wie eine Alarmglocke in seinem Schädel schrillte.

Sein Bruder war ein Killer.

Hatte er auch die Familie Toms so verabscheuungswürdig angegriffen?

Etwas tief in Kade wollte einfach nicht wahrhaben, dass sein Bruder eine ganze Familie abgeschlachtet haben sollte.

Auch wenn ihm das Grauen wie Eis in den Eingeweiden saß, musste er mehr wissen, bevor er Seth anklagen konnte, ein solches Monster zu sein. Er brauchte Beweise. Hölle noch mal, er musste seinem Bruder in die Augen sehen und die Wahrheit von ihm fordern, ein für alle Mal.

Und wenn sich herausstellte, dass Seth schuldig war, dann würde Kade tun, was getan werden musste. Was er schon damals hätte tun sollen, als er zum ersten Mal die Beweise dafür gesehen hatte, wie wenig Seth ein Menschenleben bedeutete.

Er würde seinen gottverdammten Bruder zur Strecke bringen und töten.

Lara Adrian- 07- Gezeichnete des Schicksals
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